JANNIK WOLTERS
Versuch über das Wesen des Dirigierens
In 80 Prozent der Begebenheiten kann ein professionelles Orchester auch ohne Dirigenten spielen. Der Konzertmeister führt die Regie über die Tempi und gibt die grundlegende Phrasierung vor. Jeder einzelne Musiker ist sich ohne Dirigenten seiner Verantwortung bewusst und pflegt die hohe Kunst des Zuhörens. Zusammengenommen führt dies zu einer gespannten Konzentration, die oftmals mit Dirigenten nicht erreicht wird. Das Taktschlagen kann im 21 Jahrhundert auch ein Roboter übernehmen, auch das Erkennen von „falschen“ oder unsauber intonierten Tönen erledigt jedes Smartphone mit entsprechender Software zuverlässig. Es ist daher trivial, dass die Aufgabe eines Dirigenten nicht im belanglosen Taktschlagen oder formalen Organisieren besteht.
Es wird so viel über Musik gesprochen und so wenig gesagt. Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht
hinzu, und fände ich, daß sie hinreichten, so würde ich am Ende keine Musik mehr machen.
Felix Mendelssohn Bartholdy
Das wahre Wesen des Dirigierens kann mit Worten nicht erfasst werden. Musik kann Trösten, sie hat die Kraft, uns vergessen zu lassen. Musik kann uns zum Strahlen bringen oder uns in tiefe Depression stürzen. Die Musik hat die Macht, die Massen zu mobilisieren und kann diese gleichzeitig zum Schweigen bringen. Kurzum: die Musik vermag es aus der Feder der großen Meister die gesamte Bandbreite der Emotionen, der menschlichen Existenz abzubilden. Sie kann die Götterfunken sprühen lassen und uns eine Vorstellung der Ewigkeit vermitteln. Hier liegt das Kernelement der Musik: Sie ist ein Element der Polarität, bestehend aus Klang und Stille und doch vermag die Musik, meisterlich komponiert, die polare Welt – wenn auch nur für eine Nanosekunde - zu überwinden.
Zudem wechseln die Elemente Klang und Stille in den Ohren der Zuhörer fortwährend ihre Funktion. Stille ist auch immer Klang und Klang kann zur Stille werden. Diese Gleichzeitigkeit von Sein und Nichtsein ist ein wesentlicher Aspekt, weshalb die Musik die Menschheit so sehr berührt. Subjektiv erkennen wir nur das Eine und doch ist alles gleichzeitig vorhanden. Schlussendlich gib es nur das Sein. Aus diesem Grund muss jede Komposition in der Zeit des Moments wieder neu erschaffen werden. Wir dürfen für diesen einen Augenblick unsere subjektive Wahrheit definieren, um so eine bedeutende Aussage zu formulieren. Dies obliegt dem Dirigenten. Vor diesem Hintergrund zeigt sich auch die Partitur als zutiefst unzureichendes Hilfsmittel, um die Imaginationen eines Komponisten festzuhalten.
Bei dem Versuch, das Undefinierbare zu definieren, bei dem Versuch, das Unaussprechliche auszusprechen, bei dem Versuch, das Unbegreifliche zu analysieren, geht zwangsläufig 90 Prozent des Wesensimmanenten verloren. Natürlich sind die Partituren all der großen Genies ein göttliches Geschenk an die Menschheit. Sie enthalten jedoch die Aufforderung, die verloren gegangenen 90 Prozent zu ergänzen. Wir dürfen die Verantwortung übernehmen und uns selbst schöpferisch entfalten, wohl wissend, dass wir das Risiko eingehen, die Intention des Komponisten zu verfehlen.
Doch dieses Risiko ist erforderlich, um die Chance zu haben, der Komposition gerecht werden zu können. Sämtliche Komponisten von zeitloser Bedeutung waren exaltierte Persönlichkeiten, die wider jeder Konvention – teilweise auch nur hinter der Fassade – mit einem großen Drang nach Freiheit und Autonomie ihren eigenen Weg gegangen sind. Häufig interpretierten sie ihre eigenen Werke auf vielfältige Weise. Schon Beethoven stellte fest, dass einem Interpreten, der eine Erklärung zu seinen Metronomangaben bräuchte, per se nicht geholfen werden könne.
Das Verstecken hinter einer vermeintlich wissenschaftlich fundierten Herangehensweise führt zwangsläufig in die Irre. Diese ist selbstredend ebenso subjektiv, doch ohne schöpferischen Geist und die Übernahme der gebotenen Verantwortung. Es ist dieser Geist des kreativen Künstlers, der zum authentischen Musizieren befähigt. Ein kreativer Geist, der im Augenblick des Erklingens der Komposition einen Nordstern vorgibt und somit den entscheidenden Unterschied macht.
Ein Dirigent ist ein Energien-Überträger
Joachim Kaiser
Die Faszination des Dirigierens wird auch an meiner persönlichen Geschichte deutlich:
Meine Initialzündung, die mir den unendlichen Kosmos der klassischen Musik eröffnete, war eine Aufführung des Weihnachtsoratoriums. Ich konnte mich in eine vollkommene Welt flüchten, sämtliche Ängste wurden zumindest für einen Augenblick aufgelöst, das Universum umarmte mich durch die Harmonie Bachs. Gleichzeitig eröffnete sich mir eine ganz neue Welt. Ich spürte, dass die Musik mehr vermochte als nur gleich einem genialen Psychologen die eigene Unvollkommenheit zu kompensieren. Seit diesem Tag eröffnet sich mir dieses „Mehr“ in immer neuen Dimensionen und Varianten.
Ich begann mit großem Enthusiasmus Klavier zu spielen und doch fehlte mir immer etwas. Trotz des enormen Reichtums dieses Instruments fühlte ich mich in einer subtilen Weise beschränkt. Ich sehnte mich nach noch mehr Ausdrucksmöglichkeiten, die ich auf dem Klavier nicht finden konnte.
Doch auch kein anderes Instrument konnte mir diese geben. Auf der Geige gewann ich die Möglichkeit der Zerbrechlichkeit, der Unschärfe und eines wirklichen Legato. Doch gleichzeitig verlor ich so viel: die Polyphonie, die Möglichkeit der Klangfarbenimmitation und die dynamische Amplitude. An der Orgel war ich technisch überfordert.
Tief in meinem Inneren fühlte ich schon immer die Sehnsucht nach der großen Form. Und so kam ich zu den großen Romantikern. Das Orchester bei Beethoven und Wagner kann alles: von feinster Kammermusik bis hin zum heroischen Finale.
Es lag daher auf der Hand, dass ich zum Dirigieren kam. Der Dirigent mischt, ähnlich den Registern einer Orgel den Klang des Orchesters. Beim Dirigieren fand ich das, was ich zuvor auf dem Klavier vermisste. Es ist die Aufgabe des Kapellmeisters, die Noten zum Leben zu erwecken, anders gesagt: eine Vision zu haben. Eine Vision entsteht immer aus der Energie des Herzens. Dementsprechend sind sämtliche interpretatorische Überlegungen, die der Ratio entstammen, allenfalls als Hilfsmittel heranzuziehen. Insbesondere bei der musikalischen Analyse ist Zurückhaltung dienlich.
Das Wort „Analyse“ bedeutet „Auflösen in Einzelbestandteile“, bei einer Komposition geht es jedoch um ein großes Ganzes. Beethoven wählte die Sonatenhauptsatzform als formkonstituierendes Element, da diese ihm geeignet schien, das Ringen der menschlichen Existenz aufzuzeigen. Am Anfang war die Vision, dann wurde die Musiktheorie so angepasst, dass diese der Sache dienlich war. Der Dirigent ist daher gut beraten, ebenso zu verfahren.
Am meisten haben mich immer die Dirigenten fasziniert, denen es gelungen ist, das Re-Kreative zugunsten des Kreativen zu überwinden. Um es erneut zu unterstreichen: Die Noten müssen zur Musik werden. Dafür bedarf es eines Interpreten, der eine Vorstellung von all den Emotionen hat, die er verwirklichen möchte, und die Persönlichkeit entwickelt, seine Visionen umzusetzen.
Eine Aufgabe, die an Komplexität und energetischem Aufwand kaum zu überbieten ist! Doch die Belohnung, die wir alle schon in großartigen Konzertabenden erfahren durften, ist unendlich groß.
Dirigent ist der musikalisch umfassendste Beruf
Dietrich Fischer-Dieskau
Voraussetzung für all dies ist die Überwindung des technischen Moments. In letzter Konsequenz beginnen die unendlichen Weiten der Musik dort, wo die Technik aufhört. Erst in diesem Augenblick fangen Dirigent und Orchester an zu musizieren. Die Herausforderung des Dirigenten besteht darin, dass er einen Organismus von 120, oftmals stark individualistisch veranlagten, Musikern vereinen muss. 120 Musiker müssen zumindest zeitweise einem Nordstern folgen. Schon Furtwängler wusste: „Die Kunst ist eine undemokratische Sache“. Ein gewisser Wille zur Macht ist hier unabdingbar. Doch wann folgen Musiker einem Dirigenten freiwillig?
Exzellente Leader sind Menschen, die das Unmögliche versucht haben
Dieter Lange
Stellen wir uns doch die Situation vor, dass ein Dirigent in einer Probe versucht, das Orchester von einer bestimmten Spielweise zu überzeugen, indem er 20 Minuten einen brillianten musiktheoretischen Vortrag hält und mit den neuesten Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis glänzt. Sicherlich kann er einige Musiker überzeugen, dass seine Interpretation die „Richtige“ wäre, doch eine intrinsische Einsatzfreude erreicht er sicherlich nicht. Der Dirigent muss die Menschen im Herzen gewinnen, weiß Lange, denn „wer, die Herzen gewinnt, braucht sich um die Köpfe der Menschen nicht zu sorgen“. Ein Dirigent kann Rebell oder Pionier sein, solange er dabei authentisch ist. Ein Dirigent muss sein eigenes Licht leuchten lassen, dann kommen Charisma und Präsenz von ganz allein. Eine Prise Selbstironie, Humor und ein wenig NLP-Rhetorik bereichern sicherlich jede Probe, doch schon Nietzsche wusste:
„Wer ein Warum zu leben hat, der kann fast jedes Wie ertragen.“
Die Berliner Philharmoniker folgten Wilhelm Furtwängler nicht über Jahrzehnte, weil sein Dirigat so einfach zu verstehen war, die Proben besonders harmonisch abliefen, seine Interpretationen wissenschaftlich besonders fundiert waren oder die außermusikalische Zusammenarbeit besonders einvernehmlich ablief. Die Berliner Philharmoniker folgten Wilhelm Furtwängler über Jahrzehnte und spielten mit ihm noch unter dem Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges die 9. Sinfonie Beethovens, weil er ein einzigartiges, authentisches, musikalisches Genie war und sein Licht kompromisslos mit der Welt teilte!
Was bedeutet es folglich zu dirigieren?
Dirigieren bedeutet, Energien zu übertragen, zu zweifeln, zu verzweifeln, nur um im nächsten Augenblick durch die Musik zu triumphieren. Dirigieren bedeutet in jedem Moment neu zu Erschaffen. Dirigieren bedeutet, sich aktiv schöpferisch zu entfalten. Dirigieren bedeutet, sich auf eine Reise der unerschöpflichen Möglichkeiten zu begeben. Dirigieren bedeutet, bis zur physischen und psychischen Erschöpfung aller Beteiligten zu gehen, nur um im entscheidenden Moment loszulassen. Dirigieren bedeutet, das Unmögliche zu versuchen. Dirigieren bedeutet für wenige Augenblicke in das Dasein eines Musiklehrers zu verfallen, nur um im nächsten Augenblick die Götterfunken sprühen zu lassen.